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Zur Notwendigkeit von Meinungsfreiheit
Seit dem Renaissancehumanismus und spätestens seit der europäischen Aufklärung steht der Begriff der Freiheit im Zentrum politischer, menschenrechtlicher und philosophischer Debatten. Schon John Locke (1632 – 1704) hat die These vertreten, dass eine Regierung nur dann legitim ist, wenn sie das Naturrecht auf Freiheit gewährt und schützt. Liberté, Égalité, Fraternité - unter dieser Losung stand dann das Epochenereignis, die Französische Revolution von 1789. „Der Mensch wird frei geboren, und überall liegt er in Ketten“, so hat 1762 Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) den bürgerlichen Impetus gegen Absolutismus und Aristokratie und für die Republik formuliert.
Freiheit wurde in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts zunehmend als Befreiung von den feudalen und klerikalen Verhältnissen des Ancien Règimes verstanden. Die Freiheitsrechte als angeborene Rechte des Menschen wurden gegen Absolutismus, gegen Vorurteile und Abhängigkeiten formuliert und sollen das freie Bewusstsein freier Menschen fördern und schützen. In der „Encyclopédie“, Band 9 (1765), finden wir deren naturrechtliche Bestimmung: „Dieses Recht gibt die Natur allen Menschen, damit sie über ihre Personen und ihre Güter in der Weise verfügen, die ihrem Urteil nach ihrem Glück am meisten angemessen ist – allerdings mit der Einschränkung, daß sie dieses Recht in den Grenzen des Naturgesetzes anwenden und es nicht zum Schaden der anderen Menschen mißbrauchen.“
„Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? So ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“ Immanuel Kant (1724 – 1804) trifft diese Unterscheidung in dem Aufsatz, den er mit seinen berühmten Bestimmungen der Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ und der Mündigkeit als des Vermögens, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“, einleitet. Was 1784 galt, gilt auch heute: Die Aufklärung ist nicht abgeschlossen, das Projekt ist unvollendet. Aufklärung vollzieht sich, wenn Kritik geübt wird. Kritik vollzieht sich als „freie und öffentliche Prüfung“, der sich weder Religionen noch Regierungen „entziehen“ können. Wahrheitsansprüche, die allein auf Autorität oder Macht gegründet sind, gelten nicht.
An Versuchen, autoritäre Wahrheitsansprüche wieder zu etablieren, fehlt es bekanntlich in unserer Gegenwart nicht. Von einem „Zeitalter der Kritik“ zu sprechen, fällt angesichts der Angriffe von Rechtspopulisten, Extremisten und Neofaschisten gegen eine „freie und öffentliche Prüfung“ schwer. Einschüchterungen bis hin zu Inhaftierungen von Journalisten weisen darauf hin, dass die Ausbildung des Vermögens, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“, durch Fake-News und offene Lügen verhindert und die Freiheit der öffentlichen Diskussion wie auch der Kulturen, Religionen und Weltanschauungen und der Ideen- und Lebensvielfalt - auch durch staatliche Gewalt - gefährdet ist.
Das Projekt der Aufklärung ist nicht in dem harmlosen Sinn unvollendet, dass Kritik und Freiheit sich im Vollzug und in der Öffentlichkeit bewähren müssen, solange kritikwürdige Zustände herrschen. Das Projekt ist in dem Sinn unvollendet, als die Gegenaufklärung buchstäblich marschiert: Sie will den immerhin erreichten Stand kritischer Öffentlichkeit, freier Medien und politischer Freiheit nicht nur auf eine vorargumentative Propaganda zurückdrehen, sie will den erreichten Stand persönlicher und politischer Freiheiten zu autoritären und nationalistischen Herrschaftsverhältnissen zurückzwingen. Das Projekt ist unvollendet und … es ist gefährdet. Die Gegenaufklärung will die politische und soziale Freiheit in Frieden und Demokratie zerstören.
Die UNO-Deklaration der Menschenrechte (1948), die durch Eleanor Roosevelt (1884 –1962) präsentiert wurde, ist eine entscheidende Grundlage unseres Lebens. «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.» - wie es in Artikel 1 der UNO-Menschenrechtserklärung heißt. Die Freiheitsrechte (ihre Durchsetzung und Bewahrung) sind notwenige Voraussetzung für die Entwicklung freier Menschen in einer freien Gesellschaft. Eleanor Roosevelt, US-amerikanische Delegierte bei den Vereinten Nationen betonte bei der Vorlage der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Freiheit ist für jedes menschliche Wesen ein großes Bedürfnis. Mit Freiheit geht Verantwortung einher. Für eine Person, die nicht gewillt ist, erwachsen zu werden, eine Person, die nicht bereit ist, ihr eigenes Gewicht zu tragen, ist dies eine beängstigende Aussicht.“
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und die Grundrechtecharta der Europäischen Union führen diese Freiheitsgarantien fort.
Besonderes Augenmerk legt der Dachverband Freier Weltanschauungsgemeinschaften e.V. auf die Meinungsfreiheit, wie auf die Geistes-, Gewissens-, Presse-, Kunst-, Wissenschafts- und Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Sie sind in unserer Gegenwart gefährdet. Und dabei sind nicht nur autokratische Regimes wie Russland, Saudi-Arabien, Ungarn oder die Türkei gemeint, sondern die ganze Welt. Eine robuste Demokratie mit lebendiger Meinungsfreiheit und ein freier Rechtsstaat setzen sowohl die individuellen Rechte der Menschen als auch die Autonomie demokratischer Organisationen vor ungerechtfertigten staatlichen Eingriffen voraus.
Politische Freiheit und Menschenrechte sind mit liberalen Traditionen verbunden. Wir sind uns des hohen Gutes der Freiheit des Menschen gewiss. Welche Gefährdungen des Erreichten erkennen wir? Wie kann ein aufgeklärter und demokratischer Standard gegen seine Gegner verteidigt und bewahrt werden? Eröffnen sich zurzeit Möglichkeiten der Erweiterung von Freiheitsrechten überhaupt? Ist Freiheit ein Zustand oder ein fortlaufender Prozess? Hat Freiheit Grenzen? Findet Freiheit nur in der Geschichte statt? Ist Freiheit seit dem Austritt des Menschen aus der unmittelbaren Naturabhängigkeit durch die Vernunftbegabung als Tatsache gegeben? Ist der freie Wille eine Illusion, die den universellen Determinismus der Naturgesetze verkennt und übersieht?
Dr. Volker Mueller, Falkensee
Ausgewählte Literatur:
- Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag. Stuttgart 1986. S. 5.
- Louis de Jaucourt: Natürliche Freiheit – Liberté naturelle. In: Artikel aus der von Diderot und
d’Alembert herausgegebenen Enzyklopädie. Leipzig 1984. S. 581 f.
- Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Was ist Aufklärung?
Stuttgart 2002. S. 9 – 17.
- Eleanor Roosevelt. Zitiert nach:
https://www.deinemenschenrechte.de/voices-for-human-rights/eleanor-roosevelt.html
(gelesen: 05.08.2023)
- Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein. München 2018.
- Andreas Arndt: Freiheit. Köln 2019.
- Volker Mueller (Hg.): Freiheit und Erkenntnis. Schriftenreihe der Freien Akademie. Band 40.
Berlin 2022.