Statements2022 - DFW-Dachverband_Freier_Weltanschauungsgemeinschaften

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Statements2022

Statements
Wider der Wiederkehr der Staatsreligion – vom Ringen um die Freiheit in Religion und Weltanschauung heute
„Gott, Familie, Vaterland“ – mit dieser Parole ist genau 100 Jahre nach dem Marsch Benito Mussolinis auf Rom am 25. September in Italien die faschistische Bewegung mit der bekennenden Neofaschistin Giorgia Meloni an der Spitze wieder zur stärksten Kraft geworden.
In Brasilen lautet bezeichnenderweise der Ruf von Bolsonaros Anhängern zur Stichwahl am 23. Oktober fast wortgleich: „Für Gott, Familie, Freiheit, Vaterland“. Dahinter verbirgt sich wie in Italien die Ablehnung von LGBTQ-Themen, der Kampf gegen Abtreibung, die Abschaffung von Frauenrechten. „Wir wählen Bolsonaro, weil er Gott ist“, predigt die evangelikale Pastorin Laura Almeida in Recife. „Im Einklang mit dem Wort Gottes verteidigt er dieselben Prinzipien, die wir auch haben!“
Jedem nach Freiheit in Religion und Weltanschauung strebenden Menschen muss diese Renaissance des klerikalen Faschismus große Sorgen bereiten. Denn wer die jüngste Menschheitsgeschichte betrachtet, muss erkennen, dass dort, wo auf religiöser Grundlage Argumentierende die politische Macht erhalten haben, genau dort danach für eine lange Periode nur wenig Freiheit zurückbleibt
Schauen wir beispielhaft nach Ungarn: Viktor Orban – einer der Vizepräsidenten der „Christlich Demokratischen Internationale“ schränkt seit seiner Wahl 2010 die Menschenrechte in Ungarn systematisch ein. Er betont insbesondere die Rolle der christlichen Kirchen und der traditionellen Familie. Autoritarismus und Nationalismus sind in der Rhetorik und Politik seiner Partei Fidesz stark verankert; die Zuständigkeiten des Verfassungsgerichtes wurde eingeschränkt, die Möglichkeit, über Volksentscheide auf die Politik Einfluss zu üben, wurde erheblich begrenzt, die öffentlich-rechtlichen Medien in Ungarn sind praktisch gleichgeschaltet.
Schauen wir weiter nach Polen:
Polen wird seit 2015 von der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ regiert, die sich selbst als nationalistisch und christlich charakterisiert. Seitdem wird den polnischen Menschen eine neue, moralische, politische und gesellschaftliche Ordnung auferlegt. Auf Anordnung der Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ wurde sogar die Gedenktafel für Rosa Luxemburg an dem Haus ihrer Kindheit in Zamość entfernt. Die weitverbreitete Frauenfeindlichkeit der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ ist jedem durch die anhaltenden Proteste der polnischen Frauen bekannt: Trotzdem muss seit dem 22. Oktober 2020 in Polen z.B. eine Geburt auch dann stattfinden, wenn im Uterus kein lebensfähiger Mensch heranwächst.
Schauen wir weiter nach Serbien:
Dort konnte am Samstag, den 17.09.2022, in Belgrad die EuroPride nur nach langen juristischen Auseinandersetzungen und nur unter massivem Polizeischutz stattfinden. Im Vorfeld hatten Rechtsradikale und Ultra-Konservative, gestützt auf die serbisch-orthodoxe Kirche und Teile der Regierung, massiv gegen die Veranstaltung auf den Straßen Belgrads gehetzt. Der Gipfel der klerikalen Veranstaltungs-Behinderung war aber das juristisch dann gescheiterte Präsidial-Verbot der Veranstaltung durch den Ministerpräsidenten Aleksandar Vučić selbst. Vučić ist zugleich Vorsitzender der Serbischen Fortschrittspartei, die sich selbst dem rechtskonservativen und nationalistischen Spektrum zurechnet.
Die Medien in Serbien sind bis auf wenige verbliebene Ausnahmen inzwischen ganz auf Vučić ausgerichtet.
Bekanntlich ist sein Serbien derzeit aber auch der engste Verbündete Russlands in Europa. Nicht nur deshalb lohnt es sich, zum Thema: „Wiederkehr der Staatsreligion und Homophobie in Europa“ besonders einen Blick nach Moskau zu Patriarch Kyrill zu werfen.
Für sein betontes Schweigen am 24. Februar zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine war Kyrill zunächst vielfach kritisiert worden – danach ging er aber in die Vollen: In seiner Predigt am Vergebungssonntag am 5. März 2022 legitimierte das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche die russische „Militäroperation“ gegen die „Kräfte des Bösen“ in der Ukraine als Verteidigung gegen die „sogenannten Werte“ des Westens, also „die Welt des übermäßigen Konsums“ und der Schwulenparaden. Dem Chef der russischen Nationalgarde, General Wiktor Solotow, überreichte Kyrill eine Marien-Ikone und sprach: „Möge dieses Bild junge Soldaten inspirieren, die den Eid ablegen und den Weg der Verteidigung des Vaterlandes einschlagen.“ Weiterhin verkündete der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, also der dortige oberste Kirchenfürst, dass jene Soldaten, die im Ukraine-Krieg für Russland fallen, von allen Sünden befreit seien. Auch hier ein Zitat:
„Die Kirche ist sich bewusst, dass, wenn jemand aus Pflichtgefühl, der Notwendigkeit, einen Eid zu erfüllen, seiner Berufung treu bleibt und im Militärdienst stirbt, er zweifellos eine Tat begeht, die gleichbedeutend mit einem Opfergang ist. Er opfert sich für andere auf“, so Patriarch Kyrill, und weiter: „Und deshalb glauben wir, dass dieses Opfer alle Sünden wegwäscht, die eine Person begangen hat.“ Eine klerikale Rhetorik, wie wir sie in Europa zuletzt so deutlich bei den kirchlichen Aufrufen zu den Kreuzzügen im Mittelalter gehört haben!
Allerdings jetzt nicht mehr nur verbreitet bei den sonntäglichen Gottesdiensten, sondern in Russland zur besten TV-Sendezeit und bei uns in Deutschland als Dauerschleife in den russlandtreuen sozialen Medien.
Dass die in Wirklichkeit nur von der eigenen Eitelkeit getriebenen Staatsführer wie Putin, Orban und Aleksandar Vučić sich gerne und bereitwillig in ein so rückwärtsgewandtes klerikales Welt- und Staatsbild einfügen, ist tiefenpsychologisch leicht mit dem Bedürfnis nach dem eigenem lebenslangen Machterhalt und der materiellen Absicherung der eigenen Familie zu erklären
Wie aber Selbstbereicherung, operettenhafte militärische Zurschaustellung à la Kremlgarde, religiöser Fundamentalismus und Nationalismus mit einem sich selbst als „LINKS“ definierenden Weltbild zu vereinbaren ist, muss man nicht verstehen, es ist aber erklärbar. Wer tatsächlich nie die gottgleich gesetzte Stalin-Bewunderung in Wort und Kunst hinter sich gelassen hat, der ist bei Putin und Co. wieder gut aufgehoben. Humanistisch ist dieses Weltbild aber nicht, sondern brutal und menschenverachtend.
UND wer tatsächlich wenigstens einmal bei Karl Marx wenigstens eine Passage zur Frage der Religion nachgelesen hat, der kann über die neue Synthese von Staat und Religion beispielhaft in Russland nicht nur den Kopf schütteln. Sie und er muss als Erklärung für diesen Rückschritt in die zaristische Zeit feststellen, dass hier statt Emanzipation nur die von einem patriarchalischen Denken geprägte Sehnsucht nach dem großen starken Mann bleibt …
Eine Weltanschauung ist dies freilich nicht, aber ein sehr gefährlicher Irrweg, den wir auch aus der deutschen Geschichte kennen … Allerdings ist die Wiederkehr der von Männern dominierten Staatsreligion nicht nur ein Phänomen im christlich geprägten Kulturkreis.  Im Iran leiden die Menschen nach der gescheiterten sozialen Revolution gegen den Schah nun schon seit 1979 unter der Herrschaft der Mullahs.
Die jüngsten gewaltsamen Übergriffe des dortigen islamistischen Regimes auf Menschen, die gegen den gewaltsamen Tod der nicht korrekt islamistisch gekleideten 22-jährigen Kurdin Mahsa Amini protestieren, müssen uns alle erschrecken
Die Unterstützung der selbsternannten europäischen antiimperialistischen Linken für den aktuellen Freiheitskampf des iranischen Volkes ist aber schon seit 1979 bemerkenswert gering – dient der Iran doch als Mitkämpfer in einem plumpen Antiamerikanismus und vor allem bei einer kaum verbrämten antisemitischen Israelfeindlichkeit: Vereint im Kampf gegen die USA und Israel, da stört es auch nicht, das die jüngsten russischen Angriffe auf die Zivilbevölkerung von Kiew am 5. Oktober mittels aus dem Iran gelieferter Drohnen durchgeführt wurden … Zwar kritisieren die dazu Schweigenden zurecht die Übergriffe von Recep Erdogan – um nur einen weiteren von fundamentalistischer Religiosität geleiteten Staatsmann zu erwähnen – auf das kurdische Volk in der Türkei, in Irak und Syrien – die Kurden im Iran sind aber offensichtlich ein vergessenes Thema bei den selbsternannten Antiimperialisten.
Seit August 2021 ist nun auch Afghanistan wieder ein islamisches Emirat. Welch furchtbare Folgen der dort nun wieder uneingeschränkt herrschende religiöse Fundamentalismus für die dortigen Mädchen und Frauen hat, brauche ich hier nicht weiter auszuführen.
Und selbst in der größten Demokratie der Welt – Indien – werden immer öfters Mitglieder religiöser Minderheiten von Hindu-Nationalisten angegriffen. Den Ministerpräsidenten Narendra Modi scheint dies nicht zu stören.
Im Gegenteil: Seine Politik spielt den hinduistischen Fundamentalisten in die Hände. Seit Mai 2014 mutiert Indien unter seiner Regierung zu einer illiberalen ethnischen Demokratie.
Seit 2019 erleichtert seine Regierung durch ein Staatsbürgerschaftsgesetz zwar die Einbürgerung von Hindus, Sikhs, Christen, Buddhisten, Jains und Parsen, die vor 2014 aus Pakistan, Bangladesch und Afghanistan geflohen waren und sich irregulär in Indien aufhielten. Nicht berücksichtigt bei der Einbürgerung werden aber die nach Indien geflüchteten Muslime.
Werte ZuhörerInnen, liebe Freundinnen und Freunde, Genossinnen und Genossen, die Zeitenwende, in der wir leben, ist verbunden mit Verschwörungstheorien aller Art, einer täglichen Flut von Fake News in den sogenannten sozialen Medien, global aber auch mit der Rückkehr einer neuen Art von Staatsreligion jeglicher Couleur. Welche Konsequenz ergibt sich nun daraus für uns als Atheisten, Agnostiker und Freireligiöse?
Sicher nicht vor lauter Furcht vor den Fundamentalisten die fluchtartige Rückkehr zu den altüberkommenen Glaubensrichtungen. Solches lässt sich gerade in der Türkei beobachten, wo die sozialdemokratischen Gegner von Erdogan das Kopftuchtragen per Gesetz schützen wollen, um so Wähler aus dem traditionellen Milieu Erdogans für die demokratische Opposition gewinnen.
Ich kann darin nur schwer einen Beitrag zur Sicherung von Religionsfreiheit erkennen, sondern vielmehr einen Schritt zurück hinter die Zeit vor Kemal Atatürk – ganz im Sinne Recep Erdogan.
Dass sich aber auch aufgeklärte Menschen bei uns in hier Europa für rückwärtige Symbolik begeistern können, konnten wir im September tagelang in unseren öffentlich-rechtlichen TV-Sendern verfolgen, als die Church of England als dortige Staatskirche anlässlich des Todes des kirchlichen und staatlichen Oberhauptes, Königin Elisabeth II., ein eigentlich nicht mehr in unsere Zeit passendes mittelalterliches Theaterstück aufführte. Freuen wir uns schon einmal auf die Krönung von Charles III. durch den Erzbischof von Canterbury. Tatsächlich wird aber auch nach diesem theaterhaften Aufführungsende nicht irgendein soziales Problem in England, Wales, Schottland und Nordirland durch den so zelebrierten Fortbestand der Monarchie gelöst sein …
UND traurig aber wahr, mit Tony Blair gehört tatsächlich ein zum Ritter geschlagener ehemaliger sozialdemokratischer Ministerpräsident weiterhin zum Kronrat.
Zum Glück hat die vom Tod der Queen gerührte Uschi Glas wenigstens bei uns keinen großen Widerhall mit ihrer Forderung gefunden, nun auch in Bayern wieder die Monarchie von Gottes Gnaden einzuführen ...
Menschen von Geburt an durch Gottes Segen zu Staatshäuptern zu berufen, hilft uns nicht weiter …
Lassen wir uns bei unserer Suche nach Lösungen für unsere tatsächlichen gesellschaftlichen und sozialen Probleme also weiter besser von unserer eigenen Maxime leiten, dass niemand wegen seiner Herkunft, seiner Lebensauffassung oder seines Geschlechts diskreditiert werden darf, basierend hoffentlich noch immer auf der Einsicht, dass uns kein höheres Wesen, kein Gott, kein Kaiser und schon gar kein Tribun errettet – völlig egal, ob der Tribun zurzeit in Moskau sitzt oder schlimmstenfalls 2024 wieder in Washington in der Gestalt eines Evangelisten wie Donald Trump.
Gerade angesichts des tatsächlichen Niedergangs der an ihren eigenen Widersprüchen gescheiterten alten katholischen wie evangelischen Staatskirchen gilt es für uns weiter, im Alltagsleben täglich Rückgrat zu zeigen gegen religiösen Fundamentalismus und neuzeitlichen Fanatismus jeglicher Couleur, gegen die allgegenwärtige Panikmacherei der Querdenker, gegen primitiven Nationalismus, gegen jegliche Frauenfeindlichkeit.
Dabei wird für uns weiter gelten: „Freiheit ist und bleibt immer Freiheit der Andersdenkenden“ – ein großer Satz, der auch 100 Jahre nach dem Tod von Rosa Luxemburg niemandem verbietet, im Sinne nachfolgender Generationen für eine nachhaltige und gerechte Weltordnung mit einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Mensch und Natur zu wirken.
Offene oder versteckte Sympathie mit Religions- und Staatsführern, die nach der Unterdrückung der eigenen Bevölkerung auch noch ihren Nachbarn ihre Heilvorstellungen und ihren chauvinistischen Größenwahn sogar mit militärischer Gewalt aufzwingen wollen, halte ich mit der Maxime: „Frei sei der Geist und ohne Zwang der Glaube“ nicht vereinbar.
Deshalb, frei nach Karl Marx bleibt es dabei: „An allem ist zu zweifeln“ –  und ganz nach Johannes Ronge vor allem an jeglichem religiösen Heilversprechen. Lassen Sie uns gemeinsam weiter ringen für die Freiheit in Religion und Weltanschauung – bei uns und global.
Danke für Ihre und eure Bereitschaft, mir zuzuhören.
Dr. Klaus J. Becker
Festvortrag zum 100-jährigen Bestehen der Reichsarbeitsgemeinschaft freigeistiger Verbände
am 09.10.2022 im Forum Franklin der Freireligiösen Gemeinde Mannheim aus Anlass der
Hauptversammlung des Dachverbands Freier Weltanschauungsgemeinschaften

Die Unmittelbarkeit des wirklichen Menschen – Ludwig Feuerbach zum 150. Todestag
Am 13. September 1872 verstirbt im 68. Lebensjahr der Philosoph und Religionskritiker Ludwig Feuerbach in Nürnberg. Sein 150. Todestag ist ein angemessener Anlass, sich seiner freigeistigen Ideenwelt erneut zu versichern. Befragen wir Feuerbachs Philosophie nach ihrer Geschichtsmächtigkeit und ihrer Aktualität. Gedenktage sind Anlässe, uns mit dem Denker und seinen Wirkungen eingehender zu beschäftigen. Dabei sind wir uns bewusst, dass seine Philosophie nicht auf die Stichworte Aufklärung, Vernunft und Religionskritik reduzierbar sind, sie aber zentrale Bedeutungen besitzen und ausstrahlen. Und Feuerbach ist nicht eine Persönlichkeit, die nur zu Jubiläen herausgeholt werden sollte./1/
Seit dem 19. Jahrhundert gibt es vielfältige Debatten und Auseinandersetzungen um Werk und Wirkung Ludwig Feuerbachs. Bei der Rezeption Ludwig Feuerbachs finden wir gelegentlich zu wenig seine eigenständige Leistung und seine philosophische Kraft im Bruch mit dem spekulativen Denken insbesondere in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts gewürdigt.
Auch hat ihn die Wirkungsgeschichte oft nur als Vorläufer oder Mittler zwischen philosophischen Traditionen gesehen. Doch gerade Feuerbach erscheint uns mehr und mehr tatsächlich als ein gewisser Endpunkt der Phase der Philosophieentwicklung, die wir als klassisch bezeichnen und die vor allem Immanuel Kant einleitete. Man kann die These wagen, dass Kant der Anfang und der Beginn der klassischen deutschen Philosophie und Feuerbach sein Ausgang, die Vollendung und der Bruch mit ihr sind.
Mit Mut tritt Feuerbach für das freie Philosophieren und ein sozial gerechteres Zusammenleben ein. Er steht am Ausgang der klassischen Philosophie in der  Mitte des 19. Jahrhunderts und befruchtet das freie Denken bis in unsere Tage. Er verbindet einen philosophischen Naturalismus mit der Emanzipation der Naturwissenschaften von Theologie und Glaube. Mit seinem Hauptwerk „Das Wesen des Christentums“ (1841) sowie seinen „Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie“ (1842) und seinen „Grundsätzen der Philosophie der Zukunft“ (1843) wird Feuerbach zu einem der bedeutendsten Vertreter der demokratischen Bewegung des Vormärz in Deutschland. Er ist zeit seines Lebens mit dem Kampf für Recht und Wahrheit, für Menschlichkeit und Freiheit verbunden.
Seine große historische Leistung besteht darin, die Philosophie nach einer langen Herrschaft der spekulativen, idealistischen Philosophie in Deutschland wieder auf den Boden der Realität gestellt und auf ein bis dahin nicht dagewesenes Niveau gehoben zu haben. Er treibt eine wissenschaftlich begründete Religionskritik voran.
Gegenstand seiner philosophischen Kritik sind das Wesen des Christentums, d.h. die christliche Religion und – als Konsequenz ihres Wesens – die christliche Theologie und Philosophie mit dem Hauptakzent auf der spekulativen Identitätsphilosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels. Das Prinzip, das seiner philosophischen Kritik zugrunde liegt und dieselbe leitet, ist der Materialismus – ein philosophisches Denken, das seine Gedanken mittels der Sinnentätigkeit auf Materialien und Gegenstände gründet, die außerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewusstsein existieren. Das Ergebnis seiner philosophischen Kritik ist die Erkenntnis, dass nicht Gott oder nichts Göttliches das höchste Wesen für den Menschen ist, sondern der Mensch selbst.
Feuerbach führt aus: „Die Notwendigkeit einer wesentlich anderen Philosophie geht auch daraus hervor, dass wir den Typus der bisherigen Philosophie schon vollkommen vor uns haben. ... Der persönliche Gott mag, so oder so gefasst, begründet werden – wir haben darüber genug gehört. Wir wollen davon nichts mehr wissen, wir wollen keine Theologie mehr.
Wesentliche Unterschiede der Philosophie sind wesentliche Unterschiede der Menschheit. An die Stelle des Glaubens ist der Unglaube getreten, an die Stelle der Bibel die Vernunft, an die Stelle der Religion und der Kirche die Politik, an die Stelle des Himmels die Erde, des Gebets die Arbeit, der Hölle die materielle Not, an die Stelle des Christen der Mensch. Menschen, die nicht mehr zerspalten sind in einen Herrn im Himmel und einen Herrn auf Erden, die sich mit ungeteilter Seele auf die Wirklichkeit werfen, sind andere Menschen als die im Zwiespalt lebenden. Was der Philosophie Resultat des Denkens war, ist für uns unmittelbare Gewissheit. Wir bedürfen also ein dieser Unmittelbarkeit gemäßes Prinzip. ... Dieses Prinzip ist kein anderes – negativ ausgedrückt – als der Atheismus, d.i. das Aufgeben eines vom Menschen verschiedenen Gottes.“ /2/
Mit den politischen Bewegungen im Vormärz ist Feuerbach eng verbunden. Er setzt sich mit philosophischen und gesellschaftspolitischen Fragen auseinander und publiziert programmatische Schriften, die große Wirkungen entfalten.
Seine persönliche und praktische Annäherung an die organisierten sozialdemokratischen und freigeistigen Bewegungen in seinen letzten Lebensjahren spricht für sich./3/ Feuerbach selbst wird zwar nicht Teil der freigeistigen und freireligiösen Bewegung seiner Zeit, aber diese Bewegung gründet sich auf Feuerbachs dem Menschen und der Welt zugewandte Philosophie. Tausende Arbeiter umstehen das Grab Ludwig Feuerbachs, als dieser nach seinem Tode auf dem Nürnberger Johannisfriedhof zur letzten Ruhe gebettet wird. Sie bekennen sich zu ihm als Humanisten und Philosophen. Der freireligiöse Denker Carl Scholl (1820–1907) würdigt 1889 in Nürnberg Feuerbach als einen Mann, „der, wie allen Freidenkenden, so insbesondere uns freien Gemeinden als einer unserer ersten und edelsten Vorläufer und Vorkämpfer unvergeßlich ist“./4/
Mehrere freigeistig-humanistische Organisationen haben am 25. Juli 2004 an Feuerbachs Grab und an seinem Kenotaph auf dem Rechenberg seines 200. Geburtstages gedacht und u.a. die Herausgabe einer Feuerbach-Briefmarke aktiv unterstützt.
Feuerbachs Philosophie wendet sich gesellschaftlichen Fragen zu und erarbeitet neue Antworten z.B. zu den philosophischen Grundfragen nach dem Platz des Menschen in der Welt und nach dem Primat im Verhältnis von Materie und Bewusstsein. Feuerbach schreibt in den „Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie“: „Die neue Philosophie ist keine abstrakte Qualität mehr, keine besondere Fakultät – sie ist der denkende Mensch selbst – der Mensch, der ist und sich weiß als das selbstbewusste Wesen der Natur, als das Wesen der Geschichte, als das Wesen der Staaten, als das Wesen der Religion – der Mensch, der ist und sich weiß als die wirkliche (nicht imaginäre) absolute Identität aller Gegensätze und Widersprüche ...“ /5/
In seinen „Grundsätzen der Philosophie der Zukunft“ schreibt Feuerbach: „Die neue Philosophie macht den Menschen mit Einschluß der Natur, als der Basis des Menschen, zum alleinigen, universalen und höchsten Gegenstand der Philosophie – die Anthropologie also, mit Einschluß der Physiologie, zur Universalwissenschaft.“/6/
Feuerbachs Aufarbeitung der Philosophiegeschichte führt zu einem Programm für die Zukunft. Er verändert das Selbstverständnis der Philosophie und die Nicht-Philosophie wurde ihm die „wahre Philosophie“ mit dem Blick auf den Übergang von der Theologie zur Philosophie des Menschen und auf die Veränderungen der Denkformen und Lebensweisen seiner Zeit.
In der Auseinandersetzung mit Feuerbachs philosophischen und religionskritischen Grundaussagen gibt es vor allem folgende Aspekte, die für sein Menschenbild von Bedeutung sind:
1. Feuerbach behandelt das bürgerliche liberale Gesellschafts- und Menschenbild mit seinen Grund- und Menschenrechten und wendet sich philosophisch der sinnlichen Wirklichkeit und dem realen Menschen zu.
2. Er überwindet das Spekulative, Mystische, Irrationale und stellt die Philosophie wieder auf eine reale Basis, auf das Primat der Wirklichkeit.
3. Feuerbach begründet den Humanismus ohne einen Gott. Die Auswirkungen dieses Versuches sind immer noch nicht überschaubar und weisen direkt auf Probleme unserer Gegenwart.
4. Feuerbachs Entwicklung des anthropologischen Materialismus geht einher mit der Ersetzung der Spekulation durch die Empirie, der „Unmittelbarkeit“ des wirklichen Menschen.
Feuerbach trägt zu einem erneuerten Gesellschafts- und Naturverständnis bei. Eine freie bürgerliche Gesellschaft, soziale Gerechtigkeit und humanistische Grundforderungen sind seine Grundlage für das von ihm entwickelte Gottes- und Religionsverständnis und für das positive a-theistische Menschenbild. In seinen „Vorläufigen Thesen …“ schreibt er: „Der Name ‚Mensch’ bedeutet insgemein nur den Menschen mit seinen Bedürfnissen, Empfindungen, Gesinnungen – den Menschen als Person, im Unterschied von seinem Geiste, überhaupt seinen allgemeinen öffentlichen Qualitäten.“ 7 Die Wissenschaftsentwicklung seiner Zeit verbindet er bewusst damit. Geistesfreiheit entsteht nun bei Feuerbach mittels eines anthropologischen Materialismus und einer freien humanistischen Weltanschauung.  
Ludwig Feuerbach ist zweifellos einer der bedeutendsten Religionskritiker seiner Zeit. Schwerpunkte seines Menschenbildes sind seine Projektionsthese und die Erkenntnis, dass Mythen sinnentleert sind. Die Projektionsthese „Der Mensch erschuf Gott nach seinem Bilde“ besagt, dass die Menschen ihre Wünsche und Fantasien auf einen „Götterhimmel“ projizieren. Für Feuerbach gilt jedoch, sie wieder auf die Erde zurückzuholen: Gott ist nicht die Liebe, sondern die Liebe ist ‚göttlich’! Der Inhalt der Religion wird demnach, wie Feuerbach feststellt, vom Menschen gemacht. Das Gottesbild hänge von dem jeweiligen Selbstbewusstsein ab und dieses so entstandene Selbstbildnis wird in eine größere Welt, den Kosmos projiziert.
Religiosität und Gottesidee sind für Feuerbach Teile des Menschenbildes. Sie sind für Feuerbach auch die menschliche Sehnsucht nach Glück. Diese Glücksvorstellungen werden in einen größeren Raum, also in den Kosmos geworfen, poetisch als Götterhimmel bezeichnet. Er sieht damit in der Religion das große Bündel der Wünsche, aber auch gleichzeitig die Erfahrung des Todes als Auslöser für die Entstehung von Religion überhaupt. So kommt er zu der Behauptung, dass, wenn der Tod nicht wäre, es keine Religion gäbe, und bezeichnet das Grab des Menschen als die Geburtsstätte Gottes.
Feuerbach will die Religion nicht aufheben, sondern fordert, die Religion rational zu durchleuchten und den wirklichen Menschen in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu stellen. So kommt er sinngemäß zu der Aussage, dass die Philosophie nicht gegen den Glauben kämpft, sondern lediglich gegen dogmatisierende Glaubensvorstellungen und theologische Vorurteile. Er stellt fest, dass nur derjenige als sittlich gelten kann, welcher seine religiösen Gefühle auch durchschaue. Sehen wir Feuerbach im Lichte der Aufklärung, die mit der Spekulation bricht und Spinozas Philosophie letztlich vollendet. Er entwirft ein rationales Menschenbild und befreit es von göttlicher und kirchlicher Bedeutungsprägung. Die Entmündigung des Menschen durch Theologie und Kirche sei durch den wirklichen Menschen, der frei und mit gleichen Grundrechten ausgestattet ist, zu ersetzen.
Die Anthropologie und der philosophische Materialismus werden zur erneuernden Grundlage des wissenschaftlichen und weltanschaulichen Denkens, eine philosophische Grundrichtung, die zunächst davon ausgeht, dass die Wirklichkeit so zu nehmen, zu sehen, zu interpretieren ist, wie sich real gibt und wie sie außerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewusstsein existiert.
Ludwig Feuerbach behandelt das freiheitliche Gesellschafts- und Menschenbild mit seinen Grund- und Menschenrechten und wendet sich philosophisch der Wirklichkeit zu. Feuerbachs Entwicklung des anthropologischen Materialismus geht einher mit der Ersetzung der Spekulation durch die Empirie, der „Unmittelbarkeit“ des wirklichen Menschen.
Dr. Volker Mueller


Literaturquellen:
1 Ludwig Feuerbach: Gesammelte Werke. Hg. Werner Schuffenhauer. Berlin 1967 ff.; Volker Mueller (Hg.): Ludwig Feuerbach - Religionskritik und Geistesfreiheit. Neustadt am Rbge. 2004; Christine Weckwerth: Ludwig Feuerbach zur Einführung. Hamburg 2002.
2 Ludwig Feuerbach: Notwenigkeit einer Reform der Philosophie. In: Nikolaus Knoepffler (Hg.): Von Kant bis Nietzsche. Schlüsseltexte. München 2000. S. 156 f.
3 Werner Schuffenhauer: Feuerbach und die freireligiöse Bewegung seiner Zeit. In Volker Mueller (Hg.): Ludwig Feuerbach – Religionskritik und Geistesfreiheit. A.a.O. S. 33 f., S. 38, S. 40 f.
4 Carl Scholl: Dem Andenken Ludwig Feuerbach’s. In: Franz Bohl (Hg.): Hundert Jahre Kampf für Ludwig Feuerbach. Nürnberg 1955. S. 20. Vgl. auch Alexander von Papp: Zum 80. Todestag Ludwig Feuerbachs. In: Geistesfreiheit. Nr. 11 November 1952. S. 192 – 195.
5 Ludwig Feuerbach: Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie. In: Ders.: Entwürfe zu einer Neuen Philosophie. Hg. v. Walter Jaeschke und Werner Schuffenhauer. Hamburg 1996. S. 19.
6 Ludwig Feuerbach: Grundsätze der Philosophie der Zukunft. In: Ders.: Entwürfe zu einer Neuen Philosophie. Hg. v. Walter Jaeschke und Werner Schuffenhauer. Hamburg 1996. S. 95.
7 Ludwig Feuerbach: Vorläufige Thesen ... A.a.O. S. 21.

Foto: Delegierte der DFW-Hauptversammlung 2004 am Feuerbach-Denkmal in Nürnberg.

Digitaler Jahresauftakt als Neuanfang?
 
Am Samstag, den 22. Januar 2022 lud der Dachverband Freier Weltanschauungsgemeinschaften (DFW) zu seinem ersten Digital-Seminar ein, um seine Tradition eines Januarseminars zum Auftakt ins jeweils neue Jahr fortzuführen.
 
Durch die kürzlichen Entwicklungen in den weltanschaulich freien Organisationsbündnissen war der Wunsch nach einem gemeinsamen Austausch untereinander gewachsen. Man wollte sich auf Augenhöhe neu sammeln, und diskutieren, um gerade die Schwierigkeiten und Probleme zu beleuchten, die gemeinsame Schritte und Austritte in der Vergangenheit betrafen. Zu diesem Seminar konnte das DFW-Präsidium somit 24 Teilnehmende aus unitarischen, freireligiösen, freidenkerischen, humanistischen und säkularen Verbänden willkommen heißen.
 
Der gastgebende Dachverband DFW hatte Michael Bauer und Erwin Kress als Referenten gewinnen können, die der Anfrage dankenswerterweise  zugestimmt hatten. Michael Bauer war gebeten worden, in seiner Stellung als Präsident der EHF (European Humanist Federation) zur Entwicklung der Transition der EHF in die Humanists International zu sprechen. Erwin Kress als Bundesvorsitzender des HVD referierte über die historischen Wege der einzelnen humanistischen, freireligiösen und anderen freien Weltanschauungen, ihre gemeinsamen Ideen bis zu den aktuellen Entwicklungen, die Umbenennung des KORSO in „Zentralrat der Konfessionsfreien“ und die daraus resultierende aktuelle Situation in der weltanschaulich-freigeistigen Landschaft. Im Anschluss an die Redebeiträge der beiden Referenten nutzten einige Teilnehmende die Gelegenheit, Fragen zu stellen.
 
Der Austausch an diesem Samstag zeigte deutlich, dass das Interesse an einem offenen Miteinander, einem Diskutieren, einer konstruktiven Streitkultur sehr geschätzt wird und die Teilnehmenden nach Lösungen und weiteren Formen von gemeinsamen Wegen zur Bündelung der Kräfte suchen.
 
Es entstand ein Hoffnungsschimmer, ein Türöffner in die gefühlt richtige Richtung, um nicht resignierend aufzugeben bzw. nach der Auflösung schwieriger Zusammenschlüsse wieder von vorne beginnen zu müssen. Scheitern bzw. ein Neustart sollte nicht nur als ein Ende von etwas gesehen werden, sondern immer als Chance, als Platz für Neues, als eine bisher ungeahnte Ausrichtung, um Raum für andere Netzwerke zu schaffen, vielleicht auch, um Mutiges zu wagen. Der Gedanke eines neuen bundesweiten säkularen Netzwerkes von interessierten freien Weltanschauungsgemeinschaften solle verfolgt werden.
 
Vielleicht gibt dies für 2022 neuen Auftrieb und neue Kraft, sich gegenseitig zuzuhören, seine eigenen Gedanken klarer zu formulieren und seinen Horizont weiter zu öffnen, um andere Sichtweisen und Ideen anzuerkennen oder zumindest in Erwägung zu ziehen. Denn mit den Worten von Michael Bauer ist es doch unser aller Anliegen, die Bedeutung der humanistischen Stimme nicht aus dem Blick zu verlieren.
 
Silvana Uhlrich-Knoll

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