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Die Unmittelbarkeit des wirklichen Menschen – Ludwig Feuerbach zum 150. Todestag
Am 13. September 1872 verstirbt im 68. Lebensjahr der Philosoph und Religionskritiker Ludwig Feuerbach in Nürnberg. Sein 150. Todestag ist ein angemessener Anlass, sich seiner freigeistigen Ideenwelt erneut zu versichern. Befragen wir Feuerbachs Philosophie nach ihrer Geschichtsmächtigkeit und ihrer Aktualität. Gedenktage sind Anlässe, uns mit dem Denker und seinen Wirkungen eingehender zu beschäftigen. Dabei sind wir uns bewusst, dass seine Philosophie nicht auf die Stichworte Aufklärung, Vernunft und Religionskritik reduzierbar sind, sie aber zentrale Bedeutungen besitzen und ausstrahlen. Und Feuerbach ist nicht eine Persönlichkeit, die nur zu Jubiläen herausgeholt werden sollte./1/
Seit dem 19. Jahrhundert gibt es vielfältige Debatten und Auseinandersetzungen um Werk und Wirkung Ludwig Feuerbachs. Bei der Rezeption Ludwig Feuerbachs finden wir gelegentlich zu wenig seine eigenständige Leistung und seine philosophische Kraft im Bruch mit dem spekulativen Denken insbesondere in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts gewürdigt.
Auch hat ihn die Wirkungsgeschichte oft nur als Vorläufer oder Mittler zwischen philosophischen Traditionen gesehen. Doch gerade Feuerbach erscheint uns mehr und mehr tatsächlich als ein gewisser Endpunkt der Phase der Philosophieentwicklung, die wir als klassisch bezeichnen und die vor allem Immanuel Kant einleitete. Man kann die These wagen, dass Kant der Anfang und der Beginn der klassischen deutschen Philosophie und Feuerbach sein Ausgang, die Vollendung und der Bruch mit ihr sind.
Mit Mut tritt Feuerbach für das freie Philosophieren und ein sozial gerechteres Zusammenleben ein. Er steht am Ausgang der klassischen Philosophie in der  Mitte des 19. Jahrhunderts und befruchtet das freie Denken bis in unsere Tage. Er verbindet einen philosophischen Naturalismus mit der Emanzipation der Naturwissenschaften von Theologie und Glaube. Mit seinem Hauptwerk „Das Wesen des Christentums“ (1841) sowie seinen „Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie“ (1842) und seinen „Grundsätzen der Philosophie der Zukunft“ (1843) wird Feuerbach zu einem der bedeutendsten Vertreter der demokratischen Bewegung des Vormärz in Deutschland. Er ist zeit seines Lebens mit dem Kampf für Recht und Wahrheit, für Menschlichkeit und Freiheit verbunden.
Seine große historische Leistung besteht darin, die Philosophie nach einer langen Herrschaft der spekulativen, idealistischen Philosophie in Deutschland wieder auf den Boden der Realität gestellt und auf ein bis dahin nicht dagewesenes Niveau gehoben zu haben. Er treibt eine wissenschaftlich begründete Religionskritik voran.
Gegenstand seiner philosophischen Kritik sind das Wesen des Christentums, d.h. die christliche Religion und – als Konsequenz ihres Wesens – die christliche Theologie und Philosophie mit dem Hauptakzent auf der spekulativen Identitätsphilosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels. Das Prinzip, das seiner philosophischen Kritik zugrunde liegt und dieselbe leitet, ist der Materialismus – ein philosophisches Denken, das seine Gedanken mittels der Sinnentätigkeit auf Materialien und Gegenstände gründet, die außerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewusstsein existieren. Das Ergebnis seiner philosophischen Kritik ist die Erkenntnis, dass nicht Gott oder nichts Göttliches das höchste Wesen für den Menschen ist, sondern der Mensch selbst.
Feuerbach führt aus: „Die Notwendigkeit einer wesentlich anderen Philosophie geht auch daraus hervor, dass wir den Typus der bisherigen Philosophie schon vollkommen vor uns haben. ... Der persönliche Gott mag, so oder so gefasst, begründet werden – wir haben darüber genug gehört. Wir wollen davon nichts mehr wissen, wir wollen keine Theologie mehr.
Wesentliche Unterschiede der Philosophie sind wesentliche Unterschiede der Menschheit. An die Stelle des Glaubens ist der Unglaube getreten, an die Stelle der Bibel die Vernunft, an die Stelle der Religion und der Kirche die Politik, an die Stelle des Himmels die Erde, des Gebets die Arbeit, der Hölle die materielle Not, an die Stelle des Christen der Mensch. Menschen, die nicht mehr zerspalten sind in einen Herrn im Himmel und einen Herrn auf Erden, die sich mit ungeteilter Seele auf die Wirklichkeit werfen, sind andere Menschen als die im Zwiespalt lebenden. Was der Philosophie Resultat des Denkens war, ist für uns unmittelbare Gewissheit. Wir bedürfen also ein dieser Unmittelbarkeit gemäßes Prinzip. ... Dieses Prinzip ist kein anderes – negativ ausgedrückt – als der Atheismus, d.i. das Aufgeben eines vom Menschen verschiedenen Gottes.“ /2/
Mit den politischen Bewegungen im Vormärz ist Feuerbach eng verbunden. Er setzt sich mit philosophischen und gesellschaftspolitischen Fragen auseinander und publiziert programmatische Schriften, die große Wirkungen entfalten.
Seine persönliche und praktische Annäherung an die organisierten sozialdemokratischen und freigeistigen Bewegungen in seinen letzten Lebensjahren spricht für sich./3/ Feuerbach selbst wird zwar nicht Teil der freigeistigen und freireligiösen Bewegung seiner Zeit, aber diese Bewegung gründet sich auf Feuerbachs dem Menschen und der Welt zugewandte Philosophie. Tausende Arbeiter umstehen das Grab Ludwig Feuerbachs, als dieser nach seinem Tode auf dem Nürnberger Johannisfriedhof zur letzten Ruhe gebettet wird. Sie bekennen sich zu ihm als Humanisten und Philosophen. Der freireligiöse Denker Carl Scholl (1820–1907) würdigt 1889 in Nürnberg Feuerbach als einen Mann, „der, wie allen Freidenkenden, so insbesondere uns freien Gemeinden als einer unserer ersten und edelsten Vorläufer und Vorkämpfer unvergeßlich ist“./4/
Mehrere freigeistig-humanistische Organisationen haben am 25. Juli 2004 an Feuerbachs Grab und an seinem Kenotaph auf dem Rechenberg seines 200. Geburtstages gedacht und u.a. die Herausgabe einer Feuerbach-Briefmarke aktiv unterstützt.
Feuerbachs Philosophie wendet sich gesellschaftlichen Fragen zu und erarbeitet neue Antworten z.B. zu den philosophischen Grundfragen nach dem Platz des Menschen in der Welt und nach dem Primat im Verhältnis von Materie und Bewusstsein. Feuerbach schreibt in den „Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie“: „Die neue Philosophie ist keine abstrakte Qualität mehr, keine besondere Fakultät – sie ist der denkende Mensch selbst – der Mensch, der ist und sich weiß als das selbstbewusste Wesen der Natur, als das Wesen der Geschichte, als das Wesen der Staaten, als das Wesen der Religion – der Mensch, der ist und sich weiß als die wirkliche (nicht imaginäre) absolute Identität aller Gegensätze und Widersprüche ...“ /5/
In seinen „Grundsätzen der Philosophie der Zukunft“ schreibt Feuerbach: „Die neue Philosophie macht den Menschen mit Einschluß der Natur, als der Basis des Menschen, zum alleinigen, universalen und höchsten Gegenstand der Philosophie – die Anthropologie also, mit Einschluß der Physiologie, zur Universalwissenschaft.“/6/
Feuerbachs Aufarbeitung der Philosophiegeschichte führt zu einem Programm für die Zukunft. Er verändert das Selbstverständnis der Philosophie und die Nicht-Philosophie wurde ihm die „wahre Philosophie“ mit dem Blick auf den Übergang von der Theologie zur Philosophie des Menschen und auf die Veränderungen der Denkformen und Lebensweisen seiner Zeit.
In der Auseinandersetzung mit Feuerbachs philosophischen und religionskritischen Grundaussagen gibt es vor allem folgende Aspekte, die für sein Menschenbild von Bedeutung sind:
1. Feuerbach behandelt das bürgerliche liberale Gesellschafts- und Menschenbild mit seinen Grund- und Menschenrechten und wendet sich philosophisch der sinnlichen Wirklichkeit und dem realen Menschen zu.
2. Er überwindet das Spekulative, Mystische, Irrationale und stellt die Philosophie wieder auf eine reale Basis, auf das Primat der Wirklichkeit.
3. Feuerbach begründet den Humanismus ohne einen Gott. Die Auswirkungen dieses Versuches sind immer noch nicht überschaubar und weisen direkt auf Probleme unserer Gegenwart.
4. Feuerbachs Entwicklung des anthropologischen Materialismus geht einher mit der Ersetzung der Spekulation durch die Empirie, der „Unmittelbarkeit“ des wirklichen Menschen.
Feuerbach trägt zu einem erneuerten Gesellschafts- und Naturverständnis bei. Eine freie bürgerliche Gesellschaft, soziale Gerechtigkeit und humanistische Grundforderungen sind seine Grundlage für das von ihm entwickelte Gottes- und Religionsverständnis und für das positive a-theistische Menschenbild. In seinen „Vorläufigen Thesen …“ schreibt er: „Der Name ‚Mensch’ bedeutet insgemein nur den Menschen mit seinen Bedürfnissen, Empfindungen, Gesinnungen – den Menschen als Person, im Unterschied von seinem Geiste, überhaupt seinen allgemeinen öffentlichen Qualitäten.“ 7 Die Wissenschaftsentwicklung seiner Zeit verbindet er bewusst damit. Geistesfreiheit entsteht nun bei Feuerbach mittels eines anthropologischen Materialismus und einer freien humanistischen Weltanschauung.  
Ludwig Feuerbach ist zweifellos einer der bedeutendsten Religionskritiker seiner Zeit. Schwerpunkte seines Menschenbildes sind seine Projektionsthese und die Erkenntnis, dass Mythen sinnentleert sind. Die Projektionsthese „Der Mensch erschuf Gott nach seinem Bilde“ besagt, dass die Menschen ihre Wünsche und Fantasien auf einen „Götterhimmel“ projizieren. Für Feuerbach gilt jedoch, sie wieder auf die Erde zurückzuholen: Gott ist nicht die Liebe, sondern die Liebe ist ‚göttlich’! Der Inhalt der Religion wird demnach, wie Feuerbach feststellt, vom Menschen gemacht. Das Gottesbild hänge von dem jeweiligen Selbstbewusstsein ab und dieses so entstandene Selbstbildnis wird in eine größere Welt, den Kosmos projiziert.
Religiosität und Gottesidee sind für Feuerbach Teile des Menschenbildes. Sie sind für Feuerbach auch die menschliche Sehnsucht nach Glück. Diese Glücksvorstellungen werden in einen größeren Raum, also in den Kosmos geworfen, poetisch als Götterhimmel bezeichnet. Er sieht damit in der Religion das große Bündel der Wünsche, aber auch gleichzeitig die Erfahrung des Todes als Auslöser für die Entstehung von Religion überhaupt. So kommt er zu der Behauptung, dass, wenn der Tod nicht wäre, es keine Religion gäbe, und bezeichnet das Grab des Menschen als die Geburtsstätte Gottes.
Feuerbach will die Religion nicht aufheben, sondern fordert, die Religion rational zu durchleuchten und den wirklichen Menschen in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu stellen. So kommt er sinngemäß zu der Aussage, dass die Philosophie nicht gegen den Glauben kämpft, sondern lediglich gegen dogmatisierende Glaubensvorstellungen und theologische Vorurteile. Er stellt fest, dass nur derjenige als sittlich gelten kann, welcher seine religiösen Gefühle auch durchschaue. Sehen wir Feuerbach im Lichte der Aufklärung, die mit der Spekulation bricht und Spinozas Philosophie letztlich vollendet. Er entwirft ein rationales Menschenbild und befreit es von göttlicher und kirchlicher Bedeutungsprägung. Die Entmündigung des Menschen durch Theologie und Kirche sei durch den wirklichen Menschen, der frei und mit gleichen Grundrechten ausgestattet ist, zu ersetzen.
Die Anthropologie und der philosophische Materialismus werden zur erneuernden Grundlage des wissenschaftlichen und weltanschaulichen Denkens, eine philosophische Grundrichtung, die zunächst davon ausgeht, dass die Wirklichkeit so zu nehmen, zu sehen, zu interpretieren ist, wie sich real gibt und wie sie außerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewusstsein existiert.
Ludwig Feuerbach behandelt das freiheitliche Gesellschafts- und Menschenbild mit seinen Grund- und Menschenrechten und wendet sich philosophisch der Wirklichkeit zu. Feuerbachs Entwicklung des anthropologischen Materialismus geht einher mit der Ersetzung der Spekulation durch die Empirie, der „Unmittelbarkeit“ des wirklichen Menschen.
Dr. Volker Mueller


Literaturquellen:
1 Ludwig Feuerbach: Gesammelte Werke. Hg. Werner Schuffenhauer. Berlin 1967 ff.; Volker Mueller (Hg.): Ludwig Feuerbach - Religionskritik und Geistesfreiheit. Neustadt am Rbge. 2004; Christine Weckwerth: Ludwig Feuerbach zur Einführung. Hamburg 2002.
2 Ludwig Feuerbach: Notwenigkeit einer Reform der Philosophie. In: Nikolaus Knoepffler (Hg.): Von Kant bis Nietzsche. Schlüsseltexte. München 2000. S. 156 f.
3 Werner Schuffenhauer: Feuerbach und die freireligiöse Bewegung seiner Zeit. In Volker Mueller (Hg.): Ludwig Feuerbach – Religionskritik und Geistesfreiheit. A.a.O. S. 33 f., S. 38, S. 40 f.
4 Carl Scholl: Dem Andenken Ludwig Feuerbach’s. In: Franz Bohl (Hg.): Hundert Jahre Kampf für Ludwig Feuerbach. Nürnberg 1955. S. 20. Vgl. auch Alexander von Papp: Zum 80. Todestag Ludwig Feuerbachs. In: Geistesfreiheit. Nr. 11 November 1952. S. 192 – 195.
5 Ludwig Feuerbach: Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie. In: Ders.: Entwürfe zu einer Neuen Philosophie. Hg. v. Walter Jaeschke und Werner Schuffenhauer. Hamburg 1996. S. 19.
6 Ludwig Feuerbach: Grundsätze der Philosophie der Zukunft. In: Ders.: Entwürfe zu einer Neuen Philosophie. Hg. v. Walter Jaeschke und Werner Schuffenhauer. Hamburg 1996. S. 95.
7 Ludwig Feuerbach: Vorläufige Thesen ... A.a.O. S. 21.

Foto: Delegierte der DFW-Hauptversammlung 2004 am Feuerbach-Denkmal in Nürnberg.

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